Der Ernst einer Würde von länger her

Peter Iden zum Werk von Otto Ritschl

Otto Ritschl zählt in der Entwicklungsgeschichte der abstrakten Malerei des Zwanzigsten Jahrhunderts zu deren Protagonisten. Dabei hatte er sich, 1885 in Erfurt geboren, in seinen jungen Jahren und noch bis zu Beginn seines dritten Lebensjahrzehnts eher als Romancier und Dramatiker verstanden, eine Zeitlang galt er in Berlin als eine Hoffnung des deutschen Lustspiels. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs ergriff ihn das Elend der zurückkehrenden Truppen existentiell: Auf die Rückwand eines großen Spiegels zeichnete er mit Kohle aufgetürmte Totenköpfe – wie für viele Künstler seiner Generation ereignete sich in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach der Katastrophe des Krieges eine Lebenswende, die sich als Umbruch auch im künstlerischen Werk auswirkte.

Ritschl, 1961

Entscheidend für die Kunst Otto Ritschls von Anfang an bis in seine letzten Jahre ist jedoch, dass er Orientierung nie bei Stilrichtungen gesucht hat, die im Kunstbetrieb gerade etwas galten, so wenig wie er sich je Künstlergruppen anschloss, einzig mit Jawlensky verband ihn eine enge Freundschaft – nicht draußen also suchte er Halt, sondern stets nur bei sich selbst. So hat der Kritiker Kurt Leonhard ihn zu Recht „den großen Einsamen der zeitgenössischen Kunst“ genannt.

Die fatale, für viele Künstler mörderische nationalsozialistische Kulturpolitik und der Zweite Weltkrieg zwangen Ritschl dazu, was er überhaupt noch malte – weil eigentlich, wie er sich später erinnerte: Malen unmöglich war – vor jedem fremden Blick zu verbergen. Man spürt in den ersten Bildern, die unmittelbar nach 1945 entstehen, noch die nachwirkende Last der Vergangenheit – in der zunehmenden Aufhellung der Farben bald aber auch die Lust an der neuen Freiheit. Auffällig auch die Freude daran, nach der barbarischen Massenkultur des Dritten Reichs die Möglichkeiten der Behauptung und Entfaltung eigener Subjektivität künstlerisch erproben zu dürfen.

1958 stirbt seine Frau. Es ist ein tiefgreifender Schmerz. Die Malerei wird ihm einziger Lebenswert. Daraus erwächst ein Spätwerk, das in der neueren Geschichte der deutschen Malerei seinesgleichen nicht hat. Die Konturen der Farbfelder lösen sich auf, die Flächen gehen ineinander über, es bilden sich gleichsam schwebende Räume – Bilder, die den Betrachter aus seiner Realität mitnehmen in andere Wirklichkeiten, von höherem Rang. In diesen späten Bildern von Otto Ritschl ist der Ernst einer Würde von länger her. Er ist seinen Weg gegangen, mit der Malerei über die Malerei hinaus – zu etwas, das mehr sein könnte.

Die Stunde kommt, da kann man sicher sein, in der ihn der Ruhm einholen wird, an dem Otto Ritschl selber zeitlebens so wenig gelegen war.

Peter Iden (*1938 in Meseritz) ist ein deutscher Theater- und Kunstkritiker

„Man hat es hier mit einer der letzten authentischen Formulierungen der autonomen Malerei dieses Jahrhunderts zu tun“, charakterisiert Eduard Beaucamp, Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Lebenswerk des Wiesbadener Malers Otto Ritschl. „Er hat ein erstaunliches Spätwerk geschaffen und eine Art Summa der abstrakten Malerei dieses Jahrhunderts.“

Eduard Beaucamp (*1937 in Aachen) ist ein deutscher Kunstkritiker und Publizist
Cover des Knaurs Lexikon Abstrakter Malerei von Michel Seuphor, 1957

Ritschl ist der große Einsame der zeitgenössischen Malerei. Allem ästhetischen Genre abgewandt, ist seine Kompositionskunst ebenso „klassisch“ wie die eines Renaissancemeisters. Sie steht in der Kontinuität der abendländischen Kunstgeschichte seit Giotto, die sich über Tizian und Rembrandt, Delacroix und C.D. Friedrich, Cézanne und Picasso noch bis zu Nay und Ritschl ohne Bruch verfolgen läßt. Damit ist zunächst einmal die Entwicklung des europäischen Tafelbildes gemeint, als deren logische Folge Ritschl seine eigene Staffeleimalerei verstanden wissen will. Hinzu kommt aber, dass seine autonomen Bildräume den mobilen Gebrauchswert des Tafelbildes, also insbesondere den häuslich dekorativen ebenso wie den lehrhaft musealen Bereich, kompromisslos übersteigen. Sie erobern einen neuen sakralen Raum und erheben sich wieder in den Zusammenhang einer geistigen Integration. Darin gleichen sie den Visionen des florentinischen Bildners, der die sixtinische Decke in den römischen Himmel malte und zum Begründer des Barock wurde.

Auch Michelangelo war einsam in seiner Zeit. Seine heroische Kargheit erschreckte seine Zeitgenossen ebenso wie die spirituelle Strenge Ritschls die heutigen Hedonisten und Utilitaristen. In diesem Sinne ist Ritschls Malerei unzeitgemäß . . . Wenn Kunst, wie heute gern proklamiert wird, eine Art von Utopie ist, suggestive Vorwegnahme eines künftigen Seinkönnens, dann ist Ritschls Malerei eine Utopie des Geistes, sinnenhaft vor Augen gestellt in der Unmittelbarkeit des Bildes, und sein Bild ist magischer Spielraum von Zeichen, deren Bedeutung wir zwar empfinden, aber noch nicht erklären können.

Kurt Leonhard (* 1910 Berlin, gestorben 2005 in Esslingen) war ein deutscher Kunsthistoriker, Lyriker und Übersetzer.

Otto Ritschl, Portrait eines Malers.

 

Im August 1965 strahlte der Hessische Rundfunk die Dokumentation „Otto Ritschl – Porträt eines Malers“ aus. Sie gewährte Einblicke in die Arbeitsweise und Gedankenwelt Otto Ritschls. Nebenstehend sehen Sie einen kurzen Ausschnitt des Films, der im Wiesbadener Studio des Künstlers entstand.

„Jedes äußere Bild ist Abbild eines inneren … Das Bild entsteht nicht, es wird erkämpft.“

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